Anstand und Respekt. Die zwei Seiten derselben Medaille

Renners ReVision vom 19. März 2022

„Es gibt nicht zwei Sorten von Anständigkeit, und was ein anständiger Mensch nicht darf, das darf auch ein anständiger Staat nicht. Verstößt der Staat gegen diesen einfachen Satz, so gibt er ein schlechtes Beispiel“ (Theodor Fontane).

Nun ist der Deutsche Bundestag nicht der Staat, wohl aber ein wesentliches Staatsorgan – und zugleich der Ort, an dem fast alle Staatsorgane regelmäßig aufeinander treffen. Um im parlamentarischem Diskurs, im gegenseitigem Austausch von Argumenten und gegenseitiger Kontrolle zu den möglichst besten Ergebnissen zum Wohle unserer Nation zu gelangen.

Demokratie in Realität und Theorie. Die neue 2-Äonen-Lehre?

In der Realität sind wir von dieser grauen Theorie jedoch weit entfernt. Und entfernen uns immer weiter. In der aktuellen Legislaturperiode zwingen diverse „Darbietungen“ – in Neudeutsch: „woke performances“ – von so manchen Abgeordneten den Beobachter zu kritischen Fragestellungen. Fragestellungen nach der Kompetenz, also der fachlichen Befähigung, aber auch nach der charakterlichen und menschlichen Eignung.

Vielleicht ist Letzteres sogar die entscheidende Frage. Mangelnde eigene Kompetenz wäre ja durch das monatlich knapp 23.000-Euro-Budget für geeignete und kompetente Abgeordneten-Mitarbeiter zu kompensieren. Fachliche Grundkenntnisse können auch durch Fleiß und intensives Studium zu fachlicher Kompetenz und Befähigung reifen. Aber die charakterliche und menschliche Eignung?

Demokratie lebt vom Dissens

Selbstverständlich ist der Deutsche Bundestag der Ort, an dem politische Ideologien aufeinanderprallen. Demokratie lebt vom Dissens und vom dialektischen Umgang damit: These stößt auf Antithese und beide finden dann Berücksichtigung in der Synthese – dem Kompromiss, mit dem die Verfechter beider Seiten leben können.

Der Deutsche Bundestag ist auch der Ort, an dem menschliche Charaktere – manchmal heftig – aufeinanderprallen. Was nicht unbedingt und in jedem Falle negativ zu sehen ist – solange der Umgang miteinander von gegenseitigem Respekt geprägt ist und bleibt. Solange man mit Anstand, also anständig, miteinander umgeht.

Doch die Zeiten des Anstands und des gegenseitigen Respekts scheinen leider der Vergangenheit anzugehören. Unsere Altvorderen haben dies, trotz heftigster Streitgespräche – man denke an Strauß und Wehner – noch gelebt und nach außen verdeutlicht.

Anstand und Respekt sind jedoch Voraussetzungen, nicht nur einer lösungsorientierten parlamentarischen Debatte, sondern auch die Klammer jedes gesellschaftlichen Zusammenhaltes.

Eine neue Generation steigt aus ihren Kinderbettchen und verkündet messianisch ihre neue Erlösungsreligion

Was man dieser Tage im Deutschen Bundestag geboten bekommt – besser gesagt – sich bieten lassen muss, spottet jeder Beschreibung. Der Geist des faktenorientierten Ringens um das bessere Argument in gehobener Rhetorik ist der Geistlosigkeit blanker Hysterie, hypermoralischer Selbstüberhöhung und faktenfreien Behauptens gewichen.

Hasserfülltes An- und Niederschreien der politisch anderen Meinung, des Andersdenkenden, scheinen die fehlende Lebenserfahrung, die mangelnde Souveränität, den ungenügenden Benimm und die fast vollständige Abwesenheit von Bildung, Kultur und Zivilisation übertünchen und aufwiegen zu sollen. Seriöses Auftreten, Kleiderordnung, kultivierter Umgang, geziemende Sprache? Nein. Die „Kinder vom Bahnhof Zoo“ sind wohl zunehmend am „Platz der Republik 1“ aktiv zu sein.

Konstruktive Kritik, das „bessere“ Argument, die Objektivität von Fakten – alles das zählt kaum noch im Deutschen Bundestag. Die Bedeutung des ehemals „Hohen Hauses“ als Fechtboden des zivilisierten politischen Streits – dem deutschen Volke und dessen Wohlstand, Sicherheit, Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gewidmet und verpflichtet – verkommt immer mehr zu einer entkernten und verlotterten Hütte.

In der so mancher die offenbar gewordene Wut über die eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen und die daraus entstehenden seelischen Komplexe zu übertünchen sucht.

Hier zeigt sich nur die sichtbare Spitze des Eisberges

Das angerichtete wahre Unheil befindet sich unter „der Wasseroberfläche“ und das wirft ein alarmierendes Licht auf unsere schon tief gespaltene, fragmentierte und atomisierte Gesellschaft. Hoch lebe der so hoch gepriesene Pseudo-Individualismus des Einzelnen, der in Wirklichkeit nichts anderes ist, als die Akzeptanz einer von den neu an die Macht gekommenen  „Staatslenkern“ (Politik, Medien, Zivilgesellschaft) bewusst inszenierten und beförderten Herdenmentalität.

So ganz nach dem Motto: „Egomanen und Pseudo-Individualisten aller Couleur vereinigt Euch. Vereinigt Euch im Klimawahn, im Anti-Rassismus, in der Anti-Diskriminierung, im linken Kampf gegen „rechtes“ Denken, im Streit für Diversität und Vielfalt – und ganz wichtig – vereinigt Euch gegen das dominierende männliche weiße Patriarchat“.

Dem Demos, dem Souverän, verweigert diese neue und immer unqualifizierter erscheinende „Führungs- und Funktionärskaste“ jedoch ein pflichtbewusstes, dienendes und gemeinwohlorientiertes Handeln.

Diese neue und auch immer jünger werdende „Apparatschik-Kaste“ gefällt sich immer unverhohlener in ihrer Rolle als in feudalistisch-autoritärem Duktus Anweisungen und Befehle erteilender (Be-)Herrscher. Mit unstillbarem Hunger an weiterer staatlicher Bevormundung und Erziehung des Bürgers. Sich der dienenden Pflicht gegenüber dem Bürger entledigend, dafür aber dessen Gehorsam umso nachdrücklicher und in moralisierendem Tremolo einfordernd. Jeder gesellschaftliche Zusammenhalt ist dem Herrschaftsanspruch dieser dysfunktionalen „Nichtskönner“, „Nichtsversteher“ und „Nichtzuwegebringer“ ein Dorn im Auge.

Und es wird noch schlimmer werden

Die autoritär-fauligen politischen Früchte der neofeudalen Möchte-Gerne-Herrscher sind bereits überall zu riechen und zu schmecken. Die Freiheit und die Grundrechte des Einzelnen, des souveränen und sich – auch – für das Brutto-Sozialprodukt abrackernden Bürgers werden dem Zwang des angeblich höherwertigen Kollektivs unterworfen. Der im Raume stehende allgemeine Impfzwang und die Digitalisierung jeglicher Bürgerdaten sind hier nur als unheilvolle Boten eines zukünftig schlimmeren und hemmungsloseren Unheils zu sehen.

Man kann sich jede beliebige Debatte im Deutschen Bundestag anschauen: Mit Diskussion und Findung der „besten Lösungen“ hat das nichts mehr zu tun. Hier werden keine Ideen ausgetauscht, hier wird ausschließlich behauptet, beharrt, moralisiert, hysterisiert, diffamiert und tabuisiert.

Dieser abgründige Hass, der hier gemeinten Politik-Darsteller wird im Parlament, dem „Hohen Haus“, niemals von den Älteren, die doch eigentlich aus Gründen der Seniorität eine entsprechende Weisheit besitzen sollten, gemaßregelt. Im Gegenteil, dieser Hass wird durch den Applaus, der sich bereitwillig angepasst zeigenden Älteren, immer weiter angestachelt.

Doch dieser Hass richtet sich nicht ausschließlich gegen die einzige politische Opposition, wie man denken könnte. Nein, dieser Hass richtet sich gegen jeden Leistungsträger in unserer Gesellschaft. Gegen jeden Netto-Steuerzahler. Gegen jeden, der durch Fleiß und Willen zum Wohl unserer Gesellschaft beiträgt. Gegen jeden, der sich nicht nur eine eigene, fundierte Meinung erlauben kann und darf und diese auch frank und frei zu äußern sich erdreistet.

(Selbst)Hass gegen alle und alles

Dieser Hass ist in Wirklichkeit nichts anderes als Selbsthass. Ein Selbsthass, nach der Reflektion und dem Erkennen des eigenen Unvermögens. Dieser (Selbst)Hass richtet sich gegen alle und alles. Gegen unsere wirklichen Leistungsträger, gegen unsere werteschaffenden Milieus, gegen unsere Kultur, gegen unsere Nation, gegen Fakten, gegen die Wissenschaft und gegen die Früchte der Aufklärung.

Je eher der Bürger und Wähler das erkennt, desto eher wird die so dringend notwendige Umkehr, die Metanoia, in unserem gesellschaftlichen und politischen Raum möglich werden.